Meine Eltern Ester und Arkadij Khaikov lebten bis zu meiner Geburt in der Nähe von Kiev. Mein Vater war Offizier bei der sowjetischen Armee und diente in der Panzerdivision. Wir wechselten deshalb oft unsere Wohnorte. Ende 1937 zogen meine Eltern in eine Armeesiedlung bei Minsk im Westen von Weißrussland, wo ich auf die Welt kam. Anfang 1941 zogen wir zu Vaters neuem Einsatzort nach Belostok. Diese Stadt gehörte bis 1939 zu Polen und wurde dann wie ganz Ostpolen von sowjetischen Truppen besetzt. Ich erinnere mich gut an den 22. Juni 1941. An diesem Tag war ich mit meiner Mutter im Kino. Vater wurde gegen 2 Uhr nachts zum Dienst gerufen. Und um 4 Uhr begannen die ersten Bombenangriffe. Vater kam zurück und sagte: „Packt Euer Zeug zusammen, der Krieg hat begonnen“. Für die Evakuierung von Frauen und Kinder wurde bei unserem Haus ein Bus zur Verfügung gestellt. Niemand wusste, wo genau er hinfahren wird. Mama packte die Sachen zusammen, die später abgeholt werden sollten. Nur eine kleine Handtasche mit Dokumenten nahm sie mit sich. Der Busfahrer war ein sehr anständiger Mann. Einmal wurden wir auf der tagelangen Fahrt von einer Gruppe sowjetischer Militärs angehalten. Es waren Deserteure der sowjetischen Armee. Sie forderten uns auf, den Bus zu verlassen. Aber der Busfahrer setzte sich mutig für uns ein und wir durften weiterfahren. Während eines Bombardements, wo wir wieder im Wald Unterschlupf suchten, ereignete sich etwas Unglaubliches: wir trafen dort meinen Vater. Seine Panzerdivision war in den ersten Kriegstagen zerschlagen worden und die übriggebliebenen Soldaten flüchteten. Mein Vater war zunächst mit einigen Kameraden mit einem Auto unterwegs, doch verloren sie sich später, so dass er sich alleine zu Fuß durchschlagen musste. Seine Uniform und Dokumente grub er im Wald ein. In der zivilen Kleidung gelang es ihm, sich für einen Einheimischen auszugeben und durch die besetzten Gebiete Richtung Osten den Deutschen zu entkommen. Und das Schicksal wollte es, dass wir uns kurz in diesem Wald begegnet sind! Danach mussten sich allerdings unsere Wege wieder auf unbestimmte Zeit trennen.
Nach mehrtägiger Busfahrt kamen wir zu einem Evakuationspunkt an einer Bahnstation an. Dort stiegen wir in den Zug nach Leningrad, wo Papas Bruder Simon mit seiner Frau Berta wohnten. Dort stellten wir jedoch fest, dass sie die Stadt schon verlassen hatten. Am Bahnhof bekamen wir die Anweisung, in die Jaroslawler Gebiet zu fahren. Dort lebten wir bei einer Bäuerin. Meine Mutter arbeitete auf dem Feld und half bei Heu- und Gemüseernte. Während der gesamten Zeit stand meine Mutter im Kontakt mit den Verwandten aus Kherson und erfuhr, dass meine Tante und Papas Schwester Lia mit der Familie nach Kustanai in Kasachstan geflohen war. Wir entschieden uns, ihnen zu folgen. Während der Fahrt nach Kustanai wurde der Güterzug, in dem wir gefahren wurden, mehrmals beschossen. Ich litt in der Zeit an einem schlimmen Hautausauschlag, hatte nasse Wunden am ganzen Körper. Als wir in Kustanai ankamen, klebte die Kleidung an mir fest, es brauchte eine mehrtägige Behandlung mit Kaliumpermanganat, bis die Kleidung sich von mir gelöst hatte und es mir dann wieder besser ging. Mit der Familie meiner Tante lebten wir bei einer Kasachin, alle zusammen in einem Zimmer, denn alle Einwohner von Kasachstan waren verpflichtet, die Geflüchteten bei sich aufzunehmen.
Nach einem Jahr auf der Flucht kam endlich eine Nachricht von meinem Vater: er hatte mehrere Monate gebraucht, um hinter die Frontlinie zurück zu den sowjetischen Einheiten zu kommen. Zuerst wurde er zum Dienst zugelassen, kurze Zeit danach aber in das Strafbataillon versetzt, weil er aus den von Deutschen besetzten Gebieten kam und somit der Zusammenarbeit mit den Besatzern verdächtigt wurde. Kämpfen im Strafbataillon kam einem Todesurteil gleich. Die Soldaten wurden in den gefährlichsten und aussichtlosesten Schlachten verheizt. Auch er erlitt so schwerwiegende Verletzungen, dass er auch nach langem Heilungsprozess und Rehabilitation nicht mehr zum Dienst in der Armee zurückkehren konnte. Er arbeitete bis zum Kriegsende als Fahrer bei der Armee. Im März 1944 wurde Kherson befreit. Dort lebten bis Kriegsbeginn meine Tante Lia und ihre Familie. Gemeinsam mit ihnen kehrten wir im September 1944 nach Kherson zurück, wohin nach einiger Zeit auch mein Vater zurückkehrte und wo ich bis zu meinem Schulabschluss aufwuchs.
Ich denke, das Schlimmste ist, dass andere Länder ihre Grenze für Juden nicht geöffnet haben. Noch bevor die größten Verwalter der faschistischen Dikatur am 20.Januar 1942 beschlossen, die systemaische Massenvernichtung der Juden durchzuführen, und alle Details dafür durchdachten, war eines der wenigen Länder, die sich bereit erklärten, diese Flüchtlinge aufzunehmen, die Dominikanische Republik. Die meisten anderen Länder lehnten so etwas entweder ab oder aber ignorierten den drohenden Genozid. Das ist der größte Schrecken.