Alle meine Vorfahren stammen aus Dnepropetrowsk. Besonders erinnere ich mich an meinen Großvater mütterlicherseits, Iossif Poscharskij. Er war gläubig, beachtete den Sabbat und hielt seine Enkel ebenfalls dazu an.

Dann kam der Krieg. Mein Vater war damals in einem Werk für elektrische Erzeugnisse tätig, er durfte die Produktionsstätte nicht verlassen, bis er zum Wehrdienst einberufen wurde. Meine Mutter ging mit uns beiden Kindern nach Andischan in das Ferghana-Tal im Osten Usbekistans, wo wir die Kriegszeit verbrachten.

Glücklicherweise entging unsere ganze Familie der von den Deutschen geplanten Ermordung der sowjetischen Juden. Aber zwei von fünf Brüdern fielen im Krieg gegen die deutschen Invasoren. Der eine war Panzermann, der andere Infanterist. Einer von drei am Leben gebliebenen Brüdern verlor ein Bein an der Front. Sie sind schon aIle gestorben, aber ihre Kinder und Enkelkinder leben in Israel.

Die Evakuierung endete 1944 und die Familie kehrte nach Hause zurück. Als sie in Dnepropetrowsk ankamen, zogen sie ins verschont gebliebene Haus der Großmutter ein. Den ehemaligen Eigentümern stand jedoch nur eine Haushälfte zur Verfügung, die zweite war von den Behörden anderweitig vergeben worden. Etwa 1945 wurde der Vater vom Militär entlassen. Er kam und brachte erbeuteten Stoff mit, der zu Anzügen für die Kinder verarbeitet wurde. In die Anzüge nähten die Kinder selbst Schulterstücke ein und liefen so umher.

Vor dem Krieg war die Großstadt Dnepropetrowsk ein Zentrum Jüdischen Lebens in der Sowjetunion. Rund ein Drittel der Einwohner waren Juden. Nach dem Krieg gab es nicht einmal mehr eine Synagoge, so dass Minjane in Privatwohnungen abgehalten wurden – heimlich, denn die Strafen waren streng. Die Stadt selbst lag in Schutt und Asche, viele wohnten in Bruchbuden, und die Jungen waren echte Trümmerkinder: sie spielten zwischen Ruinen.

Mit 59 Jahren, am Vorabend des Ruhestandes, entschied ich mich nach Deutschland auszureisen, denn meine Schwester lebte schon dort. 2001 zog ich ins südbadische Freiburg um und fand einen Job. Erst da entdeckte ich die jüdische Kultur. Früher, in der Sowjetunion, durfte ich mich dafür nicht interessieren. Wir fühlen uns wohl, ich bin viel in der Synagoge. Da knüpfe ich an meine Kindheit an, an die jüdischen Feste, die mein frommer Großvater feierte. Vor ein paar Monaten habe ich eine Chanukka für die israelitische Gemeinde angefertigt, einen Kerzenleuchter aus Messing. Als nächstes kommt ein Porträt aus Kupfer von Gertrud Luckner, einer Freiburgerin, die im Nationalsozialismus viele Juden gerettet hat.

Mein Sohn lebt auch in Deutschland, wo seine Tochter an der Hochschule der Polizei bei Augsburg studiert. Seine andere Tochter ist heute sechs Jahre alt.

Beim Anhören der Protokollinhalte während meines Besuches des Wannssehauses hatte ich das Gefühl, dass sich 15 Roboter auf dieser Konferenz versammelt hatten. Ich stellte mir Gleichgültigkeit in ihren Augen vor. Zynisch und geschäftsmäßig trafen sie Entscheidungen über die Vernichtung der europäischen Juden, die Deutschland und ganz Europa Genies, Wissenschaftler, Künstler geschenkt haben. Es war so, als ob sie alltägliche Geschäfte gemacht hätten. Sie hatten alles sachkundig durchgeplant: welches Land, die genaue Anzahl der Wagen für Transport, die Gasmenge für die Tötung, Verteilung der Zuständigkeiten für die Ausführung jedes Punktes des Protokolls. Ich stellte mir vor, wie diese Unmenschen während der Sitzungspausen geraucht, über ihre Familien, über ihre Hunde, über das Theater und so weiter gesprochen hatten. Und dann haben sie sich wieder an den Tisch gesetzt und ihre „Hexenküche“ fortgesetzt.

Und heute feuern andere Unmenschen Raketen auf Babi Yar ab und töten zum zweiten Mal bereits ermordete Juden.

Miron Abramovitsch Lwow-Brodskij

geboren 1939