Als der Krieg ausbrach, war ich 3 Jahre alt. Wir wohnten in Leningrad. Mein Vater, der gerade erst aus dem finnischen Krieg zurückkehrte, wurde sofort zur Westfront geschickt.

Am 6. September 1941 fielen die ersten Bomben auf die Stadt, zwei Tage später schloss sich der Blockadering um die Stadt. Massenexplosionen von 12 bis 15 Stunden am Tag und der schleichende Hunger brachten nicht nur Zerstörung, sondern wirkten sich vor allem auf die menschliche Psyche aus. Sirenen heulten, Häuser bebten wegen den Explosionen. In überfüllten Schutzbunker weinten Kinder…

Als die Kälte des Winter kam, haben meine Mutter und ich aufgehört, in den Schutzbunker runterzugehen und haben zu Hause geschlafen. In unserer Kleidung und umhüllt in Tücher und Decken. Mutter hat angefangen, mich zu ihrer Arbeit mitzunehmen. Sie arbeitete als Küchenhilfe in einem improvisierten Hospital. Ich spazierte derweil im Hof. Sie beobachtete mich durchs Fenster. Tagsüber hat sie mich auf einem Regal unter dem Küchentisch schlafen gelegt.

Am 26. November 1941 fingen wie immer die Sirenen an zu heulen und ein Bombenangriff folgte direkt darauf. Mutter lief raus, um mich zu holen und plötzlich hörte ich eine laute Explosion. Durch die Welle wurden wir gegen die gegenüberliegende Mauer geschleudert. Als es still war und wir uns umschauten, war anstelle der Küche nur Schutt. Das Zentrum des Gebäudes wurde zerstört. Und Mutter, die in Arbeitskleidung dastand, lief mit mir auf dem Arm einige Kilometerweit zu unserem Haus. So blieben wir zum ersten Mal ohne Arbeit.

Schon am 20. November 1941 wurden die Nahrungsrationen gekürzt. Die Norm für Frauen, Kinder und Senioren betrug 125 Gramm Brot pro Tag – das war ein kleines Stück einer klebrigen, schwarzen Masse, die weniger Nahrungsmittel als künstliche Zusätze hatte. Unabhängig von den vielen Explosionen, bildeten sich sehr lange Schlangen vor der Essensausgabe. Der Hunger kam zusammen mit dem Frost. Der Tod wurde zum ständigen Begleiter. Meistens starben die Familienmitglieder nacheinander. Gegessen wurde alles, bis auf den letzten Gürtel und Kleber. Es gab keine Wohnungen mit Tapeten. Diese wurden alle gegessen. Die Toten wurden zusammen in Tüchern eingehüllt und begraben. Alles, was brennen konnte, wurde in kleinen Öfen verbrannt. Verbrannt wurde alles, Möbel, Bücher und Parkett.

Der Winter 1941/41 wurden zum Schlimmsten in der Geschichte der Stadt. Vom 11. Oktober bis 7. April herrschten Minusgrade. Die Temperaturen fielen bis -33 Grad an den kältesten Tagen. Bis April herrschte eisige Kälte. In den Häusern fiel das Licht aus. Wasser und Kanalisationen froren zu. Abgemagerte Menschen bewegten sich wie Schatten durch die Stadt, fielen um, blieben liegen und erfroren. Täglich starben 4000 bis 6000 Menschen. Die Schleimhäute im Mund bluteten ständig. Die Zähne fielen fast alle aus. Und das mit 21 Jahren!

Die Explosionen gingen weiter. Die Ruinen wuchsen. Jetzt waren auch wir an der Reihe. Einmal, als wir von der Arbeit zurückkamen, war unser Wohnhaus schon zerstört und unsere Wohnung hing weit oben raus. Die Treppe wurde auch zerstört. Zur Wohnung konnte man nicht mehr.

Erst am 27. Januar 1944 endete die Blockade von Leningrad nach 900 langen Tagen und Nächten. Über 1,1 Millionen zivile Bewohner hatten ihr Leben verloren, davon 90% durch Hunger.

Die Menschen, die auf der Wannseekonferenz den Tod von uns Juden in der Sowjetunion beschlossen haben, haben überhaupt kein Recht, Menschen genannt zu werden und ebenso wenig jene, die Juden und Nichtjuden durch die Kriegsverbrechen in Leningrad. Man wird sich noch lange an diese Ereignisse mit Schaudern erinnern.

Margarita Davidof

geboren 1938 in Leningrad