Meine erste Kindheitserinnerung ist die an eine Zugfahrt.  Es war im Winter 1943-1944 und ich war vier Jahre alt.  Meine Eltern und ich wurden von Westerbork in Holland ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Als deutsche Juden aus Frankfurt am Main hatten meine Eltern 1939 Nazi-Deutschland verlassen und waren in die vermeintliche Sicherheit Hollands geflüchtet. Als meine schwangere Mutter 1939 in London war, um ihre Schwester zu besuchen, setzten die Wehen ein, und ich wurde drei Wochen vor Kriegsausbruch geboren. Am 3. September nahm meine Mutter das letzte Flugzeug von London nach Amsterdam, damit wir mit meinem Vater wiedervereint werden konnten. 

Nachdem wir im Durchgangslager Westerbork inhaftiert worden waren, wurden wir um den Jahreswechsel 1943/44 herum in das KZ Bergen-Belsen verlegt. Die Lagerwächter und ihre Hunde waren unsagbar grausam und sadistisch – und hatten offensichtlich große Freude daran, uns zu schlagen und zu quälen.  Wir Kinder lernten bald, ihnen aus dem Weg zu gehen, wenn es nur möglich war. Meine Erinnerung an Bergen-Belsen ist geprägt von Kälte, Hunger, Unterernährung und Terror.  Ich war am Ende sehr abgemagert, aber mit einem geschwollenen Bauch. Überall wimmelte es von Läusen, und alle mussten sich den Kopf rasieren, um die Ausbreitung der Läuse zu verhindern. Aber sie breiteten sich aus, und Typhus grassierte – Paratyphus und Typhus.

Meine Mutter, die an Krebs erkrankte, war nicht mehr in der Lage, sich um mich zu kümmern, und wurde in die so genannte “Lazarettbaracke” verlegt, wo sie von jüdischen Häftlingen betreut wurde. Ich verbrachte so viel Zeit wie möglich an ihrer Seite und konnte nicht begreifen, was geschah; ich war bei ihr, als sie starb. Vor dem Krieg war er ein eleganter, fülliger Mann gewesen, aber allmählich wurde er jämmerlich abgemagert, seine Arbeit bestand in der Reinigung der Latrinen der Krankenbaracke. Dort lernte er Yehoshua Birnbaum kennen. Bevor er starb, bat ihn mein Vater über sein einziges Kind zu wachen. 

Im März/April 1945 wurden die überlebenden Gefangenen in Züge verfrachtet, die sie in die Vernichtungslager im Osten bringen sollten. Der Zug hielt schließlich in Tröbitz, im Osten Deutschlands, und wir wurden von der vorrückenden russischen Armee befreit. Ich war schwer an Typhus erkrankt, und die Russen brachten mich und andere kranke Überlebende in das Krankenhaus in Tröbitz.  Anschließend gelangte ich in ein Waisenhaus in Holland. Ich war sechs Jahre alt und fühlte mich endlich frei von Angst.  Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich die Schönheit der Natur, wo vorher alles karg, braun, missbraucht und hässlich war: Es war ein wahres Erwachen.

Herr Birnbaum machte meine Tante in London ausfindig, die meine Adoption durch die 1933 nach England ausgewanderte deutsch-jüdische Familie Davidson ermöglichte. Sie gaben mir ein schönes Zuhause und sorgten dafür, dass ich eine erstklassige Ausbildung erhielt. 1961 heirate ich meinen Herbert – wir bekamen zwei wunderbare Kinder und hatten 53 herrliche gemeinsame Jahre.

Ich habe einmal die Villa besucht, in der die Wannseekonferenz stattfand, und mir geschworen, nie wieder dorthin zu gehen.  Das Böse, das in diesem schönen Haus erdacht wurde, liegt in der Luft, und trotz der Schönheit der Umgebung empfand ich große Angst.  Das Böse ist fast greifbar, und es ist unbegreiflich, wie die prächtige Kulisse des Wannsees zum Hintergrund für die Vorbereitung solch abscheulicher Verbrechen werden konnte. Die damaligen Konferenzteilnehmer sind schon lange tot. Die meisten ihrer Opfer auch – aber nicht alle. Einige wenige haben überlebt – und mit WIR! SIND! HIER! kann ich mit Rosie, einem meiner wunderbaren Enkelkinder, bezeugen, was mir und Millionen anderen angetan wurde.

Lilian Levy (geb. Dreifuss, adoptierte Davidson)

geboren 1939 in London, Vereinigtes Königreich