1935 wurde ich in Wien geboren und lebte dann in einem Dorf namens Traisen in Niederösterreich. Ich habe keine persönlichen Erinnerungen an meine frühen Jahre in Österreich, obwohl ich nach dem Krieg einige Male dorthin zurückkehren konnte. Meine Eltern betrieben im Dorf einen Gemischtwarenladen, in dem sie alles von Lebensmitteln bis zu Fahrrädern verkauften. Vor dem Anschluss an Deutschland, als das Naziregime die Kontrolle übernahm, war das Leben geregelt und glücklich.
Im November 1938, in der Pogromnacht, wurde mein Vater verhaftet und im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Unser Haus und unser Geschäft wurden geplündert und “arisiert” – und meine Mutter stellte sich jeden Tag in aller Frühe vor der Gestapo-Zentrale an, um für die Freilassung meines Vaters zu plädieren. Damals schien es bestechliche SS-Leute gegeben zu haben – und so wurde mein Vater unter der Bedingung freigelassen, dass er das Land innerhalb von zwei Wochen verließ. Leichter gesagt als getan, denn es war schwierig, Bürgen und Visa zu bekommen. Wir wollten nach Shanghai auswandern, wie viele andere Juden auch, denn dort wurden keine Visa verlangt. Doch dann übernahm eine alte Schulfreundin meiner Mutter, die in England wohnte, die erforderliche Bürgschaft – wir zogen nach England.
Doch die Schwierigkeiten hörten damit nicht auf, denn mein Vater wurde als “feindlicher Ausländer” auf der Isle of Man interniert. Während seines Aufenthalts teilten wir uns ein gemietetes Haus in Sandwich mit der Schwester meines Vaters und ihrer Tochter. Meine Mutter und meine Tante gründeten unternehmungslustig ein kleines Geschäft, in dem sie Wiener Mehlspeisen backten und verkauften.
Nachdem mein Vater von der Isle of Man zurückgekehrt war, erhielten meine Eltern eine Anstellung in einem Hotel in Maida Vale als Kellnerin und Portier. Schließlich schafften sie es, genug Geld zu sparen, um wieder Ladenbesitzer zu werden. Sie waren dem Vereinigten Königreich ewig dankbar, dass sie die Möglichkeit hatten, ihr Leben neu aufzubauen, dass ihr Sohn seinen Abschluss als Arzt machen konnte und dass sie die britische Staatsbürgerschaft erhielten.
Sie waren die Glücklichen. Nach Kriegsende erfuhren sie, dass die vier Schwestern meiner Mutter und die meisten ihrer Familien umgekommen waren, ebenso wie ihre Eltern und beinahe alle in deren Familien. Ein Cousin, Walter Fantl, war ein echter Überlebenskünstler – er überlebte Theresienstadt, achtzehn Monate in Auschwitz und den Todesmarsch.
Ich war fast 50 Jahre lang glücklich verheiratet, bevor meine Frau Daphne starb, die uns drei erfolgreiche Söhne schenkte: Keith (Kinderarzt), Ian (Rechtsanwalt) und Neil (Gastronom). Ich habe sechs Enkelkinder: Serena, Thomas, Ben, Oliver, Lucy und Toby. Seit 2000 bin ich im Ruhestand, nachdem ich 40 Jahre lang eine erfüllte Karriere als Arzt in der Allgemeinmedizin hatte. Mir wurde die Ehre zuteil, Fellow des Royal College of General Practitioners zu werden.
Als ich mit meiner Enkelin Serena – sie ist Anwältin – für das Portrait bei WIR! SIND! HIER! in Berlin war, besuchten wir die Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz. Es bleibt unbegreiflich, dass eine gebildete, kultivierte und intelligente Gruppe von Menschen in der Lage war, solch grausame, völkermörderische Pläne zu schmieden, zumal in einer Urlaubsatmosphäre, bei Essen und Cognac in so idyllischer Umgebung. Man kann sich vorstellen, wie viel Spaß und Gelächter am Tisch herrschte, während sich das Böse entwickelte. Traurigerweise war die Konferenz in ihren Zielen weitgehend erfolgreich – aber: WIR! SIND! HIER! Das schwarze Leichentuch, das über dem Wannsee hängt, wird seine Schönheit für immer trüben und darf nie vergessen werden.