Mein Vater Weinbergs Chaim Noechowitsch, geboren 1915, absolvierte vor dem Krieg die Elektrotechnische Hochschule und arbeitete nach dem Krieg als Direktor des Kraftwerks Balta.

Als sich die deutschen Truppen Balta näherten, lud unser Großvater unsere ganze Familie in einen Pferdewagen und so wir bewegten wir uns zusammen mit unseren Rückzugseinheiten. Dann traf uns unser Vater und konnte sich mit uns verbschieden. Leider konnte er uns nicht helfen, er war nur ein Soldat und er folgte Truppe weiter. Bald holten uns die Deutschen ein und wir mussten zurück nach Balta. Sehr bald organisierten die Besatzungstruppen ein Ghetto in Balta und wir ließen uns mit unserer ganzen Familie in einem Haus entlang der Kuznechnaja Strasse nieder. Dieses Haus hatte mehrere Zimmer und jedes Zimmer beherbergte eine große Anzahl von Menschen.

Das Erste, was ich vor meinen Augen habe, wie sich die Tür öffnet und da stand ein deutscher Offizier.  Ich lag im Bett, mein Hals mit einem Handtuch umgewickelt, wie mir beigebracht wurde, sollte mich krank stellen. Auf die Frage der Deutschen, was das sein soll, bekamen sie die Antwort – „Typhus“.  Sofort schlugen die Deutschen die Tür zu und verließen unser Haus, da sie große Angst vor dieser Krankheit hatten.

Eine weitere Episode, eine nächtliche Razzia. Ich erinnere mich gut an Lärm und dass sich jemand laut Deutsch sprach unserem Zimmer näherte. Als sie schon ganz in der Nähe waren, versteckte mich meine Mutter unter dem Bett und stürmte fort und lenkte damit die Deutschen auf sich selbst ab. Die Deutschen folgten ihr und fingen an zu schießen. Zum Glück lief meine Mutter durch die Gärten, wo unsere zurückziehenden Truppen Schützengräben ausgegraben haben, sie stürzte in einen dieser Gräben und die Deutschen glaubten, dass sie sie getötet hatten. Nach einer Weile kehrte meine Mutter zurück, zog mich aus dem Versteck heraus und beruhigte mich. Das waren unsere Ghetto- Nächte.

Fast am Ende des Krieges versammelten sich alle Bewohner unseres Hauses in einem der größten Räume. Starker Rummel und Krach an Türen und Fenstern zwang alle sich auf den Boden an die Wände zu werfen. Es waren rumänische Truppen, die schossen. Im Raum auf dem Boden lag eine abgenommene Tür. Meine Großmutter lehnt diese Tür an die Wand und versteckt mich hinter ihr, um mich vor Kugeln zu schützen. Unter uns war ein älterer Jude, der höchstwahrscheinlich aus Bessarabien stammte, er konnte Rumänisch und verhandelte mit den Soldaten. Sie verlangten Wertsachen. Ich erinnere mich nicht mehr an die Werte, aber jeder gab, was er konnte. Die Rumänen nahmen alles und verschwanden. Diesmal kauften wir uns los.

Zum Ende des Krieges näherten sich unsere Truppen Balta. Schon in der Ferne war die Kanonade zu hören. Alle versteckten sich, hatten Angst vor den Deutschen. Ein Teil der Bewohner saß im Keller, und wer nicht in den Keller passte, ging auf den Dachboden. Ich erinnere mich deutlich: wir waren auf dem Dachboden und ich schaute aus dem Fenster hinaus, als vor unserem Haus erschien ein Partisan auf einem Pferd. Wir trauten uns noch nicht hinunter, aber bald drangen unsere Truppen in Balta ein und wir waren überglücklich. Überlegen Sie sich mal nur, nach drei Jahren Angst, ab diesem Moment mussten wir niemanden fürchten, ruhig auf die Straße gehen, wohnen dort, wo uns bequem war. Aber der Krieg dauerte noch und bis zum Sieg war es noch ein ganzes Jahr. Wir bekamen einen Brief von seinem Vater, er lebte und es war unsere große Freude. Dann war der Tag des Sieges. Ein paar Monate später wurde mein Vater demobilisiert und er kam nach Hause.

Man sagt „die Wege des Herrn sind unergründlich“ und ich lebe bereits seit 1992 mit meiner Familie in Deutschland, in einem Land, das unserem Volk so viel Leid angetan hat. Aber das Leben ist nicht nur schwarz oder weiß, es hat verschiedene Schattierungen. Und manchmal, wenn ich im Fernsehen die Sendungen über die Wannseekonferenz und den Holocaust sehe, mein Herz krampft sich im Leibe zusammen vor ungeheurem Mitleid mit Menschen, ganzen Familien, die unschuldig gestorben sind. Und Tränen treten in meinen Augen auf. Aber das Leben geht weiter.

Abram Haimovich Weinberg

geboren 1938 in Balta, Region Odessa, Ukraine