Wir waren sieben Geschwister und ich das Jüngste. Unsere Eltern, Sarah und Hirsch Perl, hatten in Krasna (heute Ukraine) so etwas wie ein Gästehaus für Juden, die auf der Durchreise waren. Mein ältester Bruder Sruel wurde ab 1940 zur Zwangsarbeit abgeholt. Er starb eine Woche vor Kriegsende an Typhus in den Armen seines Schwagers Martin. Sruels Frau Rivka wurde 1944 mit ihren zwei Kindern in Auschwitz umgebracht, wie auch meine Schwestern Lilly und Ethel mit ihren Kindern. Lilly hatte drei Kinder, Ethel zwei Kinder. Lillys Ehemann, Martin Löwenstein, überlebte. Unsere Eltern waren bereits in Galizien ermordet worden. Von uns sieben Geschwistern überlebten vier: Mendel und Jakob, die in Mauthausen im Arbeitslager waren, Bluma und ich. Abgeholt wurden wir Anfang 1944. Es ist bizarr sagen zu müssen, dass Bluma und ich Josef Mengele unser Leben verdanken, weil er uns zur Arbeit und nicht zur Vergasung eingeteilt hatte.

Bluma und ich waren im Arbeitslager Auschwitz in Block 15 verantwortlich für die Reinigung von Toiletten und Waschräumen. Im September 1944 wurden wir erst nach Ravensbrück gebracht, dann kamen wir nach Lippstadt zur Arbeit in einer Fabrik. Dort wurden in zwei Schichten Rädchen für Flugzeuge produziert. Als die Alliierten näherkamen, wurde der Todesmarsch zusammengestellt. Tagelang wurden wir vorangetrieben unter unmenschlichen Bedingungen. Bluma wurde von einem Hund schwer ins Knie gebissen. SS Frauen machten sich einen Spaß daraus, Hunde grundlos auf uns Gefangene zu hetzen. Zwei Tage später waren wir frei, mussten aber noch 30 km nach Wurzen laufen. Dort hat dann ein Arzt das Bein von Bluma gerettet. Wir schlugen uns bis Prag durch. Wie viele andere ehemalige Gefangene wussten wir erst mal nicht wohin.

Von Prag ging es weiter nach Budapest, wo ich tatsächlich meine Geschwister wiederfand. Von Budapest aus fuhr ich dann nach Krasna, in mein Zuhause, zurück. Dort fand ich unser Haus zerstört vor. Einheimische Ukrainer hatten nach versteckten Wertsachen gesucht. In den Trümmern fand ich nur ein altes Foto von unserer Mutter und eins meiner Schwester Ethel. Das war alles, was mir geblieben ist. Doch ich konnte dort nicht bleiben. Denn es kam ja immer wieder zu Pogromen an heimkehrenden Juden, die ihren Besitz wiederhaben wollten. Unter unzumutbaren Bedingungen gelangten wir auf der Flucht vor russischer Herrschaft im württembergischen Heidenheim in ein Lager für displaced persons (DP).

Ich lernte in Heidenheim die Haganah kennen, eine Gruppe, die uns über das britische Mandatsgebiet Palästina informierte. Mit ihrer Hilfe ging ich 1947 nach Emden und auf das Schiff Exodus. Gemeinsam mit 4.500 weiteren Flüchtlingen an Bord wollte auch ich versuchen, illegal nach Palästina einzuwandern. Der Versuch misslang. Zehn britische Schiffe begleiteten die Exodus in den Hafen von Haifa und zwangen alle Insassen, auf ein britisches Schiff umzusteigen. Wir wurden erst nach Frankreich gebracht, in das einzige Land, das sich damals bereit erklärt hatte, uns anlegen zu lassen. Dort verbrachten wir mehrere Monate auf dem Schiff. Am Ende kehrten wir zu Schiff zurück nach Emden und ich wieder nach Heidenheim. Nach der Gründung Israels am 14. Mai 1948 ging ich auf das nächste Schiff, das dorthin auslief, und kam am 22. Mai 1948 dort an.  

Bluma, Martin und Motti sowie Jakob kamen später nach Israel nach. Sie alle gründeten Familien und bekamen Kinder. Ich arbeitete in einer Glasfabrik in Haifa. Über eine Freundin lernte ich den Deutschen Harry aus Berlin kennen und wir verliebten uns ineinander. Harry ging 1953 nach Deutschland zurück, um dort Musik zu studieren. 1956 holte er mich nach Berlin nach. Wir heirateten dann im September 1956. Bald kam unser erstes Kind Maya zur Welt, dann Daniel und dann Manuela. Sie alle haben Kinder – 1991 wurde ich zum ersten Mal Großmutter.  Mit diesen Enkelkindern begannen regelmäßige Familientreffen am Shabbat. Gott sei Dank gibt es auch einen Ur-Enkel. Mayas Tochter Selina wurde 2020 Mutter von Liam, dem Sonnenschein der Familie.

Aber trotzdem gehe ich mit den Folgen der Shoa ins Bett und stehe damit auf. Was meine Vorfahren einst an Besitz hatten – Häuser, Ländereien – wurde uns geraubt. Dafür wurden wir nie ‚entschädigt‘ und mit der für die bestialische Quälerei an Juden gezahlten ‚Wiedergutmachung‘ waren viele Deutsche keineswegs einverstanden. Der Antisemitismus war nie und ist auch heute nicht verschwunden. Er verändert sich ständig. Das macht mir große Sorge. Ich wünsche meinen Nachkommen deshalb vor allem ein friedliches Leben.

Die Entscheidungen der Herren am Konferenztisch der Wannseekonferenz haben mein Leben zerstört. Ich hatte nur sechs Schuljahre. Christliche Kinder in Deutschland oder Europa durften lernen und studieren. Juden durften in Auschwitz nur studieren, wie ein ‚zivilisiertes‘ Volk sich über ein humanes Volk erhob und zu Massenmördern wurde. Ein weiterer Gedanke zur Wannseekonferenz ist, dass das Judentum seit zweitausend Jahren Pogrome überlebt hat, die meisten in Russland und in Europa. Jetzt ist Hitler tot und das Judentum lebt immer noch. Am Israel Chai.

Rachel Oschitzki (geb. Perl)

geboren 1931 in Krasna, Czechoslovakia